Die meisten Ämter in Darmstadt hatten zu. Vom 16. März bis 25. Mai 2020. Nehmen wir als Beispiel das Zulassungsamt, das Teil des Ordnungs- und Bürgeramtes ist und damit dem CDU-Bürger- meister Rafael Reißer unterstellt wie unter an‐ derem auch das Baudezernat und die Schulen. Ja, auch die Schulen. Man konnte damals schön anschauen, wie dieser Bürgermeister mit zwei verschiedenen Zuständigkeiten umgeht. Mit den Ämtern und mit den Schulen. Das Zulassungsamt machte er dicht. Kein Publi- kumsverkehr mehr und auch sonst nicht viel. Warum? Offenbar zu gefährlich wegen Corona, auch noch Mitte Mai. Mitarbeiterschutz.

Während Männer und Frauen, Ärzte, Pfleger, Apotheker, Verkäufer, Kassiererinnen, während Dutzende Berufsgruppen tagtäglich ihrem Job nachgingen, mit Publikumskontakt ganz selbstverständlich, machte Reißer dicht. Das Zulassungsamt war auch in den Tagen nach dem 26. Mai telefonisch kaum zu erreichen, die Webseite funktionierte nicht. Im Prinzip funktionierte so gut wie gar nichts. Aber das wäre nicht so schlimm, denn Pleiten und Pannen gehören zu Reißers politischer Bilanz wie der lange Ludwig zu Darmstadt. Da wundert sich schon längst keiner mehr.
Oder doch? Diesmal kam sein Umgang mit Schülern und Lehrern hinzu. Dass Reißer auch für die Schulen der Stadt zuständig ist, lässt sich unschwer an deren Zustand erken‐ nen. Es gibt an Grundschulen nicht wenige Eltern und Lehrer, die Klassenräume streichen, weil es dort sonst noch schlimmer aussähe. In den Ämtern streichen Beamte und Bürger‐ meister die Wände eher selten, so weit man weiß.

Nun also sah sich Reißer in diesem Frühjahr und Sommer vor die Aufgabe gestellt, in Zu- sammenarbeit mit Schulämtern und Kultus– ministerium die Schulen wieder zum Laufen zu bringen. Nach sechs Wochen Shutdown
sollten die ersten Klassen Ende April 2020 wieder in die Schulen einziehen. Noch mitten in der großen Krise. Da herrschte in der Zulas- sungsstelle, nehmen wir sie weiter als Beispiel, noch gähnende Ruhe, das Telefon verklang weitgehend ungehört. Die Menschen im Amt standen ja unter besonderem Schutz. Und Lehrer und Schüler? Fast sechs Wochen hatten Reißer und die anderen Schultheoretiker Zeit gehabt, den Wiedereinstieg in den Unterricht vorzubereiten, für Konzepte zu sorgen, für halbwegs saubere Schulen, für Seife, warmes Wasser, Desinfektionsmittel, Mundschutz, für die Ausarbeirung von Hilfestellungen für Leh‐ rer, Schüler, Direktoren. Und was war passiert in diesen knapp sechs Wochen? Offenbar nichts. Montags sollten die ersten Klassen in die Schulen zurückkehren, und freitags zuvor, am 24. April 2020, berichtetete das Lokalblatt kommentarlos: Für die Schulen stünden we‐ der Schutzmasken noch Desinfektionsmittel zur Verfügung. Reißer habe dies eingeräumt. Die Schulen müssten sich halt selbst darum kümmern, so seine Auskunft. Vielleicht ein bisschen die Eltern anbetteln, oder Masken aus China importieren, oder Desinfektionsmittel im heimatlichen Keller zusammenkochen – irgendwas in der Art hatte er sich wohl vorgestellt.
Schutzmasken, hieß es, seien auch nicht nö‐ tig (just an jenem Montag wurden sie in Hes‐ sen zur Pflicht in Geschäften und im öffentli‐ chem Nahverkehr erklärt). Und Desinfekti‐ onsmittel? Könne man auch drauf verzichten, fand Reißer. Seine Begründung: Desinfektionsmittel erhöhten „die Brandlast in den Gebäuden.“ Noch am selben Tag, am 24. April, forderte die Darmstädter SPD das Naheliegende: Einen Notfall-Kit mit Schutzmasken und Desinfektionsmittel für jeden Schüler. Das Lokalblatt druckte am 25. April die Antwort des Darmstädter CDU-Fraktionsvorsitzenden Alexander Schleith: Die SPD-Forderung mache „mit billigsten Mitteln Politik auf dem Rücken der Schüler“, verlautbarte der frühere Arzt, außerdem würde sie die Eltern „zutiefst verunsichern.“ Yücel Akdeniz von den Grünen erklärte, die getroffenen Vorkehrungen ohne Schutzmasken und Desinfektionsmittel seien „mehr als ausreichend.“
Um den gefährlichen Unsinn komplett zu machen, verkündete die von CDU und Grünen gestellte Landesregierung am selben Tag voller Stolz, dass vom folgenden Montag an alle Schüler mit einem Schutzausrüstungs-Kit ausgestattet würden, inklusive Mund-Nasen- Schutz, Schutzhandschuhen, Schutzkittel und Desinfektionsmittel. Von Reißers Brandgefahr-Gefasel keine Rede mehr. Man muss diese Tage aus Darmstädter Sicht als vollkommenes Fiasko beschreiben. Dass zumindest die Grundschüler an je‐ nem Montag dann doch noch nicht in die Schule mussten, lag an einem Gerichtsurteil, das in letzter Minute kam. Reißer, Akdeniz und Schleith hätten sie in die Schule geschickt. Im Zulassungsamt ließen sie die Rollläden noch unten. Sie wie in den Schulen wieder hochzuziehen, war offenbar zu gefährlich. Schüler und Lehrer als Versuchskaninchen.

Es blieb das Gleiche in den folgenden Monaten. Zunächst halbierte man die Klassen, um die gültige Abstandsregelung halbwegs einhalten zu können. Im wöchentlichen Wechsel ging die eine Hälfte der Schüler zur Schule, die andere Hälfte blieb zuhause und wurde per Videokonferenz unterrichtet. Zwei Wochen vor Beginn der hessischen Sommerferien ging man in den Grundschulen am 22. Juni in den ultimativen Versuchskaninchen‐ modus über. Keine Abstandregelung mehr, keine Aufteilung der Klassen, stattdessen Normalbetrieb. Lehrer und Lehrerinnen über sechzig, die zuvor als Riskiogruppe eingestuft worden waren, mussten wieder in die Schule. Mit 25 Schülern und Schülerinnen fünf Stunden am Tag in einem Raum. Und so ging es nach den Sommerferien weiter. Wer sich mit der offiziellen Corona-Warn-App befasste, las dort in der Rubrik So verhalten Sie sich richtig unter anderem: „Tragen Sie einen Mundschutz bei Begegnungen mit anderen Personen. Halten Sie mindestens 1,5 Meter Abstand zu an‐ deren Personen.“ Grundsätzliche Regeln, die für Grundschulen nicht galten. Begründung der Schulpolitiker: Eine Heidelberger Studie liefere den Nachweis, dass Kinder das Virus nur wenig verbreiteten.
Es gab Proteste von Lehrern und Schulen gegen die Abschaffung der geltenden Abstandsregelungen und der Verpflichtung zum Tragen der Schutzausstattung. Begründung: Dies widerspreche der Gleichbehandlung, da es ein weitaus höheres Infektionsrisiko für Lehrer und Schüler an den Grundschulen darstelle. Es widerspreche dem Wortlaut des In‐ fektionsschutzgesetzes, das in öffentlichen Bereichen einen Mindest‐ abstand von 1,5 Metern oder das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes vorschreibe. Der angeordnete Verzicht auf die Vorsichtsmaßnahmen an Grundschulen widerspreche sowohl dem Arbeits- wie dem Gesund‐ heitsschutz. Die Schulpolitiker blieben bei ihrer Linie. Händewaschen, Lüften der Klassenräume, mehr brauche man nicht, um gesund zu bleiben. Man konnte das auf verschiedene Art und Weise interpretieren. Zum Beispiel so, dass die Anordnungen gegen Paragraph 3. Absatz 9 des Hessischen Schulgesetzes verstoßen, der besagt, dass Schulen, Lehrkräfte und Schulleitungen zur „Wohlfahrt der Schülerinnen und Schüler und zum Schutz ihrer seelischen und körperlichen Unversehrtheit verpflichtet“ sind. Eine Schule ohne Einhaltung von Abstandsregeln in Großgruppen wäre demnach womöglich rechtswidrig. Die Schulpolitik wies diese Einschätzung zurück, nichts anders war zu erwarten.
Begründet hatte das Kultusministerium die Öffnung der Grundschulen ohne Abstandsregelung mit einem Schreiben an die Schulleitungen vom 10. Juni. Es verwies auf besagte Studien, die angeblich „belastbar“ belegt hät- ten, „dass die derzeit gültigen Abstandsregelungen im Schulbetrieb für das Infektionsgeschehen keine entscheidende Rolle spielen würden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse ermöglichten es, auf Basis dieser beiden Faktoren … ab Montag, den 22. Juni, und damit noch vor den Sommerferien, einen weiteren Öffnungsschritt hin zu einer gewohnten 5-Tage-Woche … für alle Schülerinnen und Schüler der Grundschulen, der Grundstufen der Förderschulen, der Grundschulzweige an Kooperativen Gesamtschulen sowie der Grundschulzweige der verbundenen Schulformen und der Grundstufen an Integrierten Gesamtschulen in Hessen zu gehen.“ Die Entscheidung erfolge auch auf der Basis „der sehr erfreulichen Entwicklung der Infektionszahlen“. Die Entwicklung der Infektionszahlen nach den Sommerferien war allerdings alles anderes als erfreulich. In Offenbach zum Beispiel stieg die Zahl der Neuinfektionen schon gegen Ende der Sommerferien auf einen Wert, der eine Verschärfung der Corona-Auflagen und Verbote nötig machte. Der zuständige Krisenstab beschloss Anfang August unter anderem, dass gegen Maskenverweigerer entschiedener vorgegangen werde, Sport nur noch kontaktlos und mit Mindestabstand stattfinden dürfe, und Picknicken auf öffentlichen Plätzen gänzlich verboten sei. Schon da warnte Susanne Johna, die Vorsitzende des Ärzteverbandes Marburger Bund, man befinde sich bei den Infektions‐ zahlen „schon in einer zweiten, flachen Anstiegswelle“.
Die Schulpolitiker kümmerte das nicht. In Darmstadt, so die Nachricht des Schulamtes im Zusammenhang mit dem geplanten Regelbetrieb ohne Abstandsgebot nach den Sommerferien, werde es zum Start nicht überall ausreichend Des‐ infektionsmittel geben. Man ahnt es schon: Wegen Brandgefahr! So ganz wohl war es den Schulöffnern dann aber wohl doch nicht mit ihrer rücksichtslosen Strategie. In einem Schreiben an die Darmstädter Vereine teilte das Schulamt mit: „Liebe Nutzerinnen und Nutzer der Schulsporthallen, am 23. Juli 2020 hat das Kultusministerium Hessen weitere Lockerungen im Zusammenhang mit Covid-19 erlassen. Demnach sollen ab dem 1.August 2020, ergänzend zum Beginn des Regelbetriebes an unseren Schulen, jegliche Mannschaftssportarten wieder uneingeschränkt ausgeübt werden können. Nach reiflichen Überlegungen und in Abstimmung mit Herrn Bürgermeister Rafael Reißer haben wir uns dazu entschlossen, diese Empfehlungen zunächst in Darmstadt nicht umzusetzen. Mit Blick auf das derzeitige Entwick-lungsgeschehen der Covid-19-Infektionen, die wieder ansteigen, bleiben die derzeit bestehenden (und in unserem Schreiben vom 21. Juli 2020 kommunizierten) Abstands- und Hygieneregelungen bis zunächst 31. August 2020 bestehen. Das hat den Grund, dass wir das weitere Infektionsgeschehen nach der Rückkehr in den Regelbetrieb an den Schulen, abwarten und genau im Auge behalten möchten. Wir wissen, dass diese Entscheidung sehr wahrscheinlich nicht vollumfänglich Ihren Wünschen entspricht, dennoch erachten wir diese als richtig und wichtig. Keinem von uns ist damit geholfen, wenn wir nach einer vollständigen Trainingsfreigabe bereits Ende Au‐ gust einen Rückschritt machen müssen, um die potenziell ansteigenden Covid-19-Zahlen wieder einzudämmen. Wir hoffen daher auf Ihr Verständnis.“
Diese Sätze sollte man sich genau anschauen, um ihre Unverfroren- heit zu verstehen. Man will Vereinssportler vor Ansteckungen schützen und lässt deshalb nicht zu, was man in den Schulen nicht nur erlaubt, sondern vorschreibt. Und man tut das mit dem Hinweis, dass man abwarten wolle, was in den Schule passiere. Man macht kein Hehl daraus, dass Schüler und Lehrer als Versuchskaninchen dienen. Unabhängig vom Ausgang dieses Menschen- Experiments mit Schülern und vor allem mit Lehrern, die wegen ihres Alters weitaus gefährdeter sind; unabhängig davon, ob dieses Experi‐ ment Herbst und Winter ohne Opfer übersteht, ist eines klar: Die Schulversager findet man nicht in Klassenräumen, sondern in der Schulpolitik und im Darmstädter Rathaus. Dass einer wie der ehema‐ lige Fotostudiobetreiber Reißer, dessen Karriere in Sport-, Bau- und Ordnungspolitik seit Jahren Peinlichkeit an Peinlichkeit reiht (siehe die Satire „Wie Dagobert Kackgans Bürgermeister von Darmstadt wurde“, erhältlich bei Thalia u.a.), auch für Schulen zuständig ist, für das Wohl von Lehrern und Schülern, das ist eine zutiefst verstörende Nachricht.
Als ab Mitte Oktober die Infekti‐ onszahlen auch in Darmstadt explo‐ dierten, Restaurants, Cafés, Bars, Kinos, Theater und vieles mehr ge‐ schlossen wurden, als es hieß, alles hänge nun davon ab, dass die Sozial‐ kontakte minimiert würden, als Maskenpflicht auch in der Darm‐ städter Innenstadt angeordnet wur‐ de, da blieben die Schulen wie selbstverständlich offen. Ohne Mas‐ kenpficht für Schüler in den Grund‐ schulklassen. Aber da hatten unsere Schulpolitiker die Zeit natürlich ge‐ nutzt, um die Schulen so sicher wie möglich zu machen. Hatten Geräte zur Raumfuftreinigung angeschafft, wie dies mehrere Studien empfah‐ len. Hatten sie? Natürlich nicht. Was sie hatten, war eine „Hand‐ lungsempfehlung“: Lüften.

(Stand 31.Oktober 2020)