Lothar Leder hat 1996 als erster Triathlet die magische Acht-Stunden-Marke über die Ironman-Distanz geknackt. Heute veranstalten er und seine Frau Nicole Traininingslager und arbeiten als Personal Trainer. Der hochgerüsteten aktuellen Triathlon-Generation empfiehlt Leder ein wenig mehr Demut und Naturverbundenheit.

Der 14. Juli 1996, ein heißer Tag. Ironman in Roth, ein großes Abenteuer. Nichts ist durchdesignt in jener Zeit, weder beim Material noch in den Köpfen. Lothar Leder, 25 Jahre alt, ist aus Darmstadt angereist, er geht als einer der Favoriten ins Rennen. Der Winzersohn aus Rheinhessen geht die 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,195 Kilometer Laufen nicht mit wissenschaftlicher Kühle an, wie dies später gang und gäbe sein wird, sondern mit Härte und Emotion. Leder hat sein Rennrad tags zuvor im Parc fermé abgestellt, ungeputzt wie meist, nur die Kette hat er noch mal geölt. 

Zwei Jahre zuvor war er auf Hawaii gewesen, mit Nicole Mertes, die er später heiratete, auch sie eine Triathletin. Mittwochs waren sie in Frankfurt los geflogen, donnerstags nach 24 Stunden in Kona angekommen, vom Flughafen fuhren sie direkt zur Startnummernausgabe, und samstags standen sie an der Startlinie des härtesten aller Langstreckenrennen. Ein Reiseplan, unvorstellbar in heutiger Zeit, da sich die weltbesten Athleten und Athletinnen über Wochen mit sportwissenschaftlicher Expertise auf die Zeitumstellung und das extreme hawaiianische Klima vorbereiten. Leder und seine Freundin flogen damals nach Hawaii, trainierten freitags noch mal und stiegen samstags um halb sieben zum Wettkampf ins warme Wasser in der Bucht von Kailua-Kona. Leder wurde Sechster. Nicole Mertes kollabierte zehn Kilometer vor dem Ziel. Nachdem Leder vergebens im Ziel auf sie gewartet hatte, nahm er sich ein Rad und fuhr die letzten Kilometer der Laufstrecke ab, auf der Suche nach seiner Freundin, ohne Erfolg, sie lag längst im Sanitätszelt und ist erst sechs Jahre später wieder – sehr erfolgreich – auf die Ironman-Strecke gegangen.

Als Lothar Leder 1996 in Roth Schwimmen und Radfahren hinter sich gebracht hat und auf der Laufstrecke die Marke erreicht, die die letzten zehn Kilometer ankündigt, wird es immer lauter um ihn herum. Fans und Freunde rechnen, alle mit demselben Ergebnis: Leder nimmt Kurs auf eine neue Weltbestzeit, darauf, als erster Triathlet die Achtstunden-Marke zu knacken. Leder nimmt die Aufregung wahr, sein Trainer ruft ihm zu, wenn er weiter um die 4:10 Minuten pro Kilometer liefe, würde er sich den Rekord holen, von dem jeder Profi-Triathlet träumt. Leder trägt keine Uhr während des Rennens, keinen Pulsmesser, nichts dergleichen, aber er weiß, vier Minuten und zehn Sekunden, das würde er schaffen. Wie schnell er läuft, muss er von keiner Uhr ablesen, das hat er im Gefühl, auch nach mehr als sieben Stunden höchster Anstrengung. Mit der Ernährung klappt es auch. Leder hat unterwegs Unmengen Wasser und fünf Dosen Red Bull getrunken, die österreichische Abfüllung, in ihr steckt mehr Koffein, jetzt wechselt er zwischen Wasser und Cola, denn die erlaubte Koffeinmenge, das weiß er, ist nach fünf Dosen Red Bull erreicht, so wollen es die Anti-Doping-Regeln im Jahr 1996. Nach 7:57:02 Stunden läuft Lothar Leder über die Ziellinie. Seinen Platz in der Geschichte des Triathlons hat er damit sicher. Zwei Wochen später kassiert er bei einem Triathlon in Koblenz zum ersten Mal in seiner Karriere ein Antrittsgeld. 500 Mark. So war das damals. Heute kassiert ein Triathlon-Topstar bei großen Rennen Antrittsgelder in ordentlich sechsstelliger Höhe. Auf ein Rad, wie Leder es 1996 in Roth fuhr, würde sich heute kein Hobby-Ironman mehr setzen, Laufschuhe wie der Darmstädter sie damals trug, würden heute noch als Sneaker für die Freizeit durchgehen, auch Kleidung, Helme, Brillen und vieles mehr sind heute in einer Weise optimiert, die schon ins Absurde spielt. An den Rennmaschinen arbeiten Designer Hand in Hand mit Aerodynamikern. Räder, Helme und Kleidung werden in Windkanälen getestet, elektronische Schaltungen sind state of the art, Wattmesser und High-Tech-Uhren mit permanenter Datenanalyse Schlager auf dem Markt teurer Gadgets.

Lothar Leder ist mittlerweile 49 Jahre alt. Zusammen mit Nicole, die er 1999 heiratete, veranstaltet er seit Jahren Triathlon-Camps auf Mallorca, Lanzarote und Südafrika, außerdem betreut er als persönlicher Trainer Manager, Banker, Ärzte, Gutverdiener, die ihre Leidenschaft im Triathlon gefunden haben. „Die Leute kommen und wollen Ironman machen“, sagt Leder. „Früher hast du dir fünf Jahre Zeit gelassen, acht Jahre. Jetzt soll’s in einem Jahr gehen. Was für mich als Jugendlicher der Marathon war, eine Heldengeschichte, das ist heute der Ironman. Marathon ist gewöhnlich geworden.“ 

Früher kam man vom Laufen zum Triathlon. Heute kommen die Leute aus dem Gym oder direkt vom Yogakurs.

Ein Start auf Hawaii kostet mit Nebengeräuschen eine fünfstellige Summe. Vielen, sagt Leder, sei es egal, wie teuer es ist. Triathleten sind eine kaufkräftige Spezies. „Es geht ihnen nur darum, diese Strecke zu machen. Sie haben das Glitzern in den Augen.“ Viele Akademiker sind darunter, mit gutem Einkommen und brachialem Ehrgeiz. „Früher warst du Läufer“, sagt Leder, „du hast dir ein Rennrad gekauft und Triathlon gemacht. Heute kommen die Leute aus dem Fitnessstudio oder dem Yogakurs.“

Die technische Ausrüstung eines modernen Triathlon-Novizen ist so exorbitant wie sein Anspruch an sich selbst. Damals, in den Anfängen, war Triathlon noch ein Sport aus einer anderen Welt. Er kam von weit, weit her. Aus Hawaii, aus Kalifornien. Leder hatte schon früh, da arbeitete er noch als Bankangestellter, das amerikanische Triathlon-Magazin abonniert, das kam einmal im Monat per Post. Dann hat er nachgeschaut, welche Art von Lenker sie in der anderen Welt fahren, wie sie trainieren. „Du hast dir Geschichten erzählen lassen von welchen, die drüben waren. Und das hast du dann irgendwie nachtrainiert.“ Leders Trainingsausfahrten waren bis zu 400 Kilometer lang. 1996 lief er in der fünften, vierten und dritten Woche vor dem Ironman Hawaii jeweils 200 Kilometer zusätzlich zum normalen Triathlon-Training. „Wir haben viel zu viel trainiert“, sagt er. „Hätte ich die Hälfte gemacht, hätte ich Hawaii ein paarmal gewonnen.“ So musste er sich mit zwei dritten Plätzen begnügen. 

Heute sind Informationen über die neueste Ausrüstung und Trainingsmethodik via Internet Allgemeingut. Wer genug Geld hat, kann nahezu mit der gleichen Ausrüstung unterwegs sein wie die weltbesten Profis. Denen werden die gleichen Räder, Neoprenanzüge, Helme, Trikots, Schuhe millimetergenau angepasst, das ist oft der einzige Unterschied. Der Schuhsponsor lässt das neueste Modell schon mal von Boston nach Hawaii einfliegen, samt Experten, der vor Ort das Feintuning besorgt. Leders Rennrad, mit dem er 1996 die Achtstunden-Marke unterbot, ein Bianchi, ist heute im Besitz eines Sammlers.   Ein Modell aus dem Mittelalter des Triathlonsports. Während viele heutige Spitzentriathleten beim Schwimmen und Laufen kaum schneller sind als Leder vor 24 Jahren, sind die Radzeiten deutlich schneller geworden, Größenordnung fünfzehn bis zwanzig Minuten. Damals fuhr man Rennrad, heute fahren Stars wie Amateure ultramoderne Zeitfahrmaschinen, wie sie auch bei der Tour de France zum Einsatz kommen.

Leder erzählt von einem Schweizer, den er auf Lanzarote getroffen hat. Ein Privatier mit einem 16000-Euro-Rad. „Er hat gejammert, die Leistungsdiagnostik sei nix gewesen, die Werte Scheiße, da hab ich zu ihm gesagt, lass doch mal los, lass doch mal den Computer und die Messungen und das ganze Zeugs, dann hast du vielleicht mehr Spaß, das hat er überhaupt nicht verstanden.“ Leistungsdiagnostik, Wattmesser, Datensammlung – „die Selbstoptimierung“, sagt Leder, „hat im Triathlon einen Status erreicht, der manchmal fast zur Comedy wird, weil die Leute wirklich denken, es geht nur noch so.“ Mit dem Schweizer Privatier fuhr Leder eine lange Runde, da piepste es die ganze Zeit. „Er hatte einen Computer mit Radar an seinem Rad, er sah auf dem Bildschirm, wenn von hinten ein Auto kam, er hörte das Piepsen und sah den Abstand.“ Im Prinzip mache so etwas Sinn, sagt Leder. Aber es sei auch Ausdruck einer hemmungslosen Technisierung, die den Radler immer weiter wegführe von Gefühl, Natur, Erleben. „Ich sagte, mach das Piepsding aus, aber das ging nicht mehr. Ohne Piepsding kam er mit dem Autoverkehr von hinten nicht mehr klar.“ Ein anderes Beispiel: Schwimmtraining im Pool, eine Bahn Techniktraining, 50 Meter: Immer laufen die Uhren mit, alles wird getrackt und geteilt und auf Strava hochgeladen, dem Facebook der Ausdauersportler. „Ich verschließe mich als Trainer all dem nicht“, sagt Leder, „aber ich sehe es sehr kritisch, weil die Leute dadurch das Gefühl verlieren.“ 

Im Extrem findet Radfahrtraining nicht mehr im Freien statt. Sondern auf der Rolle. Die Online-Plattform Zwift ist während des Corona-Lockdowns zum Renner geworden. Man sitzt daheim und fährt via Internet, Monitor und Software mit oder gegen andere Radler auf der ganzen Welt. „Als Profi würde ich heute ab und zu auch auf so einem Ding fahren“, sagt Leder. „Harte Intervalle kannst du indoor viel besser steuern.“ Aber lange Ausfahrten? „Wenn du nur noch Frankfurt downtown auf der Rolle fährst, fehlt das Wichtigste: die Elemente, die Luft, das Wasser, der Staub, die Gerüche, die Gefühle. Aber es ist tatsächlich so, dass du mittlerweile einen Ironman machen kannst, ohne mit dem Rad jemals auf der Straße gewesen zu sein. Ich kenne einen, der fährt 15000 Kilometer im Jahr auf der Rolle.“ Früher, sagt Leder, seien die Leute, die mit Triathlon anfingen, fitter gewesen, heute konzentrierten sie sich weniger auf den Sport als auf technische Tools, auf Laufschuhe mit Carbonsohlen, solche Dinge, sie verlören dabei das Wesentliche aus den Augen. „Sie verlieren den Genuss, sie verlieren das Erlebnis, das den Sport ausmacht.“ Was hat es auf sich mit dieser zügellosen Selbst- und Materialoptimierung? Mit dem manisch verfolgten Ziel Ironman? Warum ist der Spaß an der Sache diesem kalten Ernst gewichen? Woher dieser Ehrgeiz? Beim Ironman geht es nicht nur um Sport. Nicht nur um Erleben. Es geht auch um Zeigen. Ironman ist ein Statussymbol. „Das ist wie der teuerste Porsche vor der Tür“, sagt Leder. Ein Ausweis von Außerordentlichem, Besonderem, Exklusivem. Der Körperkult spielt eine wichtige Rolle. Ironman ist eine Lifestyle-Art von Body-Building. In der Woche vor Hawaii sieht man auf den Straßen von Kona Heerscharen halbnackter Männer und Frauen, die ihre Fitness und ihre Körper zur Schau stellen. Ironman als Ego-Trip? Klar, sagt Leder, das sei schon immer so gewesen. Auch bei ihm. „Über die olympische Distanz gibt es heute Staffeln, da spielt der Teamgedanke eine Rolle“, sagt er. „Aber das ist nicht der Ursprung dieses Sports. Sein Ursprung ist der Ego-Trip.“

Lothar Leder versucht in seinen Camps manchmal, die Triathlon-Uhr ein Stück zurückzudrehen, seinen Schülern die Schönheit, die Erlebniswelt des Sports zu vermitteln, sie anzuregen, eine Balance zu finden zwischen Gefühl und Ehrgeiz, Spaß und Ernst, Natur und Technik. Was macht einer wie er, der mit dem Rennrad immer noch 20 000 Kilometer im Jahr fährt, wenn er wirklich was erleben will? Nicht Hawaii, das ist durch für ihn. Er fährt dann mit einer Gruppe von Enthusiasten von Bordeaux nach Frankfurt, von Girona nach Darmstadt, acht Tage am Stück jeweils 180 Kilometer, solche Touren. Er bietet sie im Internet an, sie sind immer ausverkauft. Extrem ist das für ihn nicht. Extrem ist für ihn anders. So wie eine 100-Pässe-Tour innerhalb von zehn Tagen in den Alpen. Jeden Tag zehn Pässe, jeden Tag 200 Kilometer, jeden Tag 4500 Höhenmeter. „Das bin ich zweimal gefahren“, sagt Leder, „und es hat mich mehr beeindruckt als Hawaii. Da findest du nicht so viele, die mitfahren, da bist du allein mit dir selbst.“ Nur mit dem Nötigsten. Ohne Schnickschnack.