Kann man im Extrem seine Mitte finden? Im Feuer sein Ich?
Tennisprofi Andrea Petkovic gelingt mit ihrem Erzählband
ein spektakuläres literarisches Debüt.

Von MICHAEL EDER

Es ist, was nicht verwundert, ein kluges Buch geworden. Schon das Vorwort nimmt allem, was folgt auf mehr als 260 Seiten, das kalte Licht der Nachverfolgbarkeit. Aber es nimmt diesem fabelhaften Buch nichts von seiner Spannung und Dramatik. Man weiß früh, das wird keine Nacherzählung, hier kommt nicht die nächste triste Sportlerbiographie, hier kommt Literatur, selbst erlebt, selbst erinnert, selbst geschrieben, selbst erdacht. Man wusste, dass Petkovic schreiben kann, das hatte sie mit Texten und Kolumnen in F.A.Z. und Süddeutscher Zeitung längst bewiesen. Man ahnte, dass sie das Zeug zur Schriftstellerin hat. Nun weiß man es.

Andrea Petkovic erklärt im Vorwort ihres literarischen Debüts Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht sehr elegant, wie sie es mit der Wahrheit zu halten gedenkt. Sie erzählt es mit einer Geschichte. Einer Geschichte, die ihr Vater, so schreibt sie, immer wieder gern zum Besten gibt, wenn er ein oder zwei Gläschen zu viel getrunken hat. 2011 sei es gewesen, damals als sie in Melbourne zum ersten Mal das Viertelfinale eines Grand-Slam-Turnier erreicht hat. Nach langen Tagen und mancher Night Session sei es oft drei Uhr morgens geworden, als sie und ihr Vater ins gemietete Appartement zurückkehrten, vollgepumpt mit Adrenalin. Sie, die Spielerin, sei häufig erst gegen fünf Uhr früh in unruhigen Schlaf gefallen. Auch der Vater habe oft nicht schlafen können, manchmal sei er, als es ruhig geworden war in ihrem Zimmer, in die Nacht hinausgegangen. Was in einer dieser dunklen Nächte geschah, erzählt der Vater gern so: Er sei zu weit gelaufen, viel zu weit, und habe sich in einem Park verloren. Ein Rascheln, ein Plumpsen, ein Grunzen. Plötzlich sei ein riesengroßes Tier vor ihm gestanden, mit Fell und Raubzähnen. Er habe angesichts der Bestie geschrien vor Angst und sei um sein Leben gelaufen, so schnell er konnte und so lange, bis er irgendwann aus dem Dunkel auftauchte und die ersten Häuser wieder sah, genau in dem Moment, als die Sonne über Melbourne aufging. Das riesige Tier, erzählt der Vater, sei wohl nichts anderes gewesen als ein Braunbär. Ein Braunbär mitten in Melbourne? Recht unwahrscheinlich sei das, schreibt Andrea Petkovic. Es wäre wohl der erste Braunbär gewesen, der es geschafft hätte, durch den Indischen Ozean zu schwimmen, um einen einsamen Jogger in einem australischen Park zu Tode zu erschrecken. Ziemlich unwahrscheinlich wäre das in der Tat, aber was heißt das schon? Ziemlich unwahrscheinlich ist vieles.

Andrea Petkovic ist in ihrer Familie mit solchen Erzählungen aufgewachsen. Hinter jedem Ereignis verbarg sich eine Geschichte, eine Bedeutung, eine Symbolik, eine Übertreibung. Manchmal, schreibt sie, brauche es einen Braunbären, um der Wahrheit näherzukommen. Aus diesem Geist ist ihr Buch. Aus biographischen Ereignissen entwickelt sie Geschichten, Bedeutungen, Gedanken. In jedem Geschehen sieht sie mehr als dem Menschen geschieht. In jedem Geschehen sieht sie Grund und Konsequenz. Kopf und Seele.

Die Sätze, die Andrea Petkovics Buch erklärt, hat sie womöglich schon viel früher in der Zeitung geschrieben. Sätze, die ihre Nachdenklichkeit verstehen lassen, ihren Willen, ihre Siege, ihre Niederlagen, ihre Zweifel, ihr Scheitern, ihre Triumphe, auch ihre Unerbittlichkeit gegenüber sich selbst, diesen brutalen Drang zur Selbstoptimierung, Die Sätze hat sie in der F.A.Z. geschrieben über eine Begegnung mit dem Triathleten Jan Frodeno, dem dreifachen Ironman-Weltmeister. „Sein Leben“, schrieb sie dort, „ist ein Kampf um Anerkennung. Überall sieht er Nachholbedarf, trainiert sich in die Bewusstlosigkeit. Um seine Mitte zu finden, ging er in die Extreme.“ Um Extreme geht es auch in Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht. Der gnadenlose Kampf um Anerkennung ist das zentrale Motiv. Wie Frodeno, so bleibt auch Petkovic auf der Suche nach dem Ich, das den eigenen Ansprüchen genügt, nur der Gang in die Extreme. Wie der Ironman ba‐ lanciert auch sie in manchmal absurd anmutender Selbstoptimierung am Rande der Selbstzerstörung. Woher kommt diese Sehnsucht nach Anerkennung, dieser unbarmherzige Drang an die Spitze, dieser außerordentliche, rücksichtslose Ehrgeiz? Petkovic gibt in ihrem Buch darauf die Antworten, schonungslos oft, anderen und auch sich selbst gegenüber.

Ihr Vater hatte Frau und Tochter 1988 nach Deutschland geholt, wo er als Tennistrainer arbeitete, um nach seiner Rückkehr mit dem verdienten Geld daheim in Bosnien – er ist ethnischer Serbe – der Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Als die Spannungen im zerfallenden Jugoslawien immer stärker wurden, entschied er sich für Deutschland. Die Petkovics wurden zur Migrantenfamilie, die zunächst in bescheidenen Verhältnissen lebte, sich dann, dank des Tennistrainings, das der Vater gab, die Miete für ein kleines Reihenhaus leisten konnte. Die Nachbarn waren jetzt ein Polizist und ein Lehrer mit ihren Familien, man hörte Blockflöten- und Klavierklänge aus der Nachbarschaft. Es war ein erster sozialer Aufstieg, plötzlich fühlte sich Andrea Petkovic, so erzählt sie es, zwischen zwei Welten. Halb Migrantin, halb Deutsche. Sie passte sich an. Sie tanzte nicht aus der Reihe. In der Grundschule war sie der Traum aller Lehrer, intelligent, fleißig, ruhig. Sie hatte Angst aufzufallen. Sie wollte nichts mehr als dazugehören. Sie hielt sich penibel an alle Regeln. Sie trainierte sich das rollende „R“ ab, das sie als Migrantenkind verriet.

In ihrem Buch, das sie in einem gemieteten Haus in Woodstock im Osten der Vereinigten Staaten schrieb, erzählt Petkovic von der Schulzeit. Sie erzählt von Frau Müller, einer tollen Lehrerin. Sie erzählt, wie Frau Müller sie, die perfekte Schülerin, einmal beiseite nahm, um ihren großen Ehrgeiz, ihre Anforderungen an sich selbst, ein wenig abzukühlen. Man könne nicht in allem die Beste sein, sagte Frau Müller. Die kleine Andrea war damals neun Jahre alt, und sie hat diesen Satz nie vergessen. Nicht weil sie ihn sich zu eigen gemacht hätte. Im Gegenteil: Weil sie, wie sie schreibt, schon damals gewusst habe, dass das nicht stimmt. Dass man natürlich überall die Beste sein könne, wenn man es nur wolle. Wirklich wolle. Frau Müller, die nichts davon wusste, habe ihr leid getan.

Petkovic erzählt von einem türkischen Mädchen, das damals ihre Freundin war. Wie eine Heilige sei sie gewesen, immerzu besonnen und geduldig, mit ihrem Schicksal vertraut und einem vorherbestimmten Leben respektvoll ergeben. Das türkische Mädchen habe schon immer gewusst, wer sie war, schreibt Petkovic. Sie aber habe das nicht gewusst. „Ich wusste nicht, wer ich war, und hatte auch gar nicht vor, es herauszufinden. Mein Ziel war es, in einem ewigen Kampf mit mir selbst etwas zu kreieren, das einem Ich glich.“ Was sie wusste, war, dass sie sich einem fremdbestimmten Schicksal nie ergeben würde. Dass sie sich nie ergeben würde. Und dass sie die Bes‐ te werden würde, ohne Zweifel.

Es ist schließlich der Tennisklub, in dem der Vater Trainer ist, der ihr Leben in eine Bahn wirft, auf der es kein Halten mehr gibt. Sie trifft dort, beim TEC Darmstadt, Kinder ihres Alters aus reichem Elternhaus. Es ist ein Kulturschock. Regeln, lernt sie, spielen dort keine Rolle. Niemand interessiert sich dafür. Die reichen Kinder pfeifen auf Regeln und Formen. Diese Rücksichtslosigkeit erlebt sie als wahres Privileg der Privilegierten. Eine faszinierende Erkenntnis für ein Mädchen, in dem ein Feuer lodert, das die Gefühle bald zum Überkochen bringt.

Die Eltern der Tennisklubkinder sind Ärzte, Anwälte, Architekten. Noch fühlt sie sich abgehängt von einer Elite, die sie uneinholbar vorne sieht. Sie macht sich auf die Jagd. Sie taucht ein in eine Welt aus Kunst und Musik, Design und Theater, Literatur und Sprachen. Das Feuer lodert. Im Gymnasium überspringt sie eine Klasse. Sie ist mit die Beste in der Schule, aber das interessiert sie nicht, die Anforderungen dort empfindet sie nicht als allzu hoch. Ihr Ticket, auch die nächste Klasse zu überspringen, die Hautevolee des Tennisklubs, die sie Großbürgertum nennt, sieht sie woanders: im Tennis. Ihr Vater will nicht, dass sie Profi wird, er will die Hochbegabte lieber an der Uni sehen, gewiss hätte sie auch dort Karriere gemacht. Doch die Tochter handelt ihm eine Zweijahresfrist ab. Solange soll sie es auf der Profitour versuchen dürfen. Aus den zwei Jahren sind bald fünfzehn geworden. Andrea Petkovic ist im September 2020 33 Jahre alt geworden. Auf der Tour hat sie knapp acht Millionen Dollar verdient. Sie war die Nummer neun der Weltrangliste, aber glücklich geworden, das ist sie nicht. Oder doch? In ihrem Buch schlägt sie gegen Ende versöhnliche Töne an. Darf man ihnen trauen? Wer im Drang nach oben die Klassen überspringt, verliert, diesen Eindruck gewinnt man, mehr als er oder sie gewinnt. Verliert die Wurzeln, die Basis, die Empathie. Verliert die Übersprungenen. Wer alles von oben betrachten will, betrachtet von dort auch die Menschen. Wohin dann? Petkovics Antwort ist: New York. Das Zentrum der Welt, das Mekka der Erfolgreichen. Sie nennt New York ihre zweite Heimat, doch in ihren Erzählungen, die sie vor Corona geschrieben hat, wirkt die Metropole seltsam trist, verloren, ernüchternd. Die Frage bleibt: Kann man im Extrem seine Mitte finden? Im Feuer sein Ich? Dass eine Menschenseele in diesem Feuer auch verbrennen kann, daran lässt Petkovic keinen Zweifel. Sie erzählt in frappierender Offenheit von einem Punkt in ihrer Karriere, an dem alles zusammenbrach. Ihr Leben über Jahre allein auf Wille aufzubauen, führte zu einem bemerkenswerten Comeback, aber auch zu einem Gefühl der Aussichtslosigkeit und gähnenden Leere.

Mit Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht ist Petkovic ein Erzählband gelungen, der einen tiefen, oft verstörenden Einblick in die Seele des Leistungssports gibt. Vergleichbares hat es bisher nicht gegeben.