Wo kommen eigentlich plötzlich die ganzen Jogger her?, hat ein geschätzter Kollege gefragt, als die Corona-Krise gerade angefangen hatte. Ja, woher wohl? Aus Kletterhallen, Schwimmbädern, Boxstudios, Trampolinhallen, von Basketballplätzen, Fußballplätzen, Skateparks und allen anderen Orten, an denen man sonst Sport machen kann, der Spaß macht. Klar, joggen hat auch seine schönen Seiten, man ist draußen, kriegt den Kopf frei und hat das Sportprogramm schnell abgehakt.

Aber was genau macht daran Spaß? Worauf soll man sich freuen? Was sind die Ziele, die Erfolgserlebnisse? Dieselbe todlangweilige Runde beim 8000. Mal vier Sekunden schneller laufen als beim 7999. Mal? Es gibt kein Team, mit dem man sich motivieren könnte, es gibt keine Adrenalinschübe, wenn man etwas Neues ausprobiert, es gibt im Grunde nichts, was dagegen spricht, einfach stehen zu bleiben. Der spießigste Büroalltag ist aufregender als joggen. Und trotzdem hat man am Ende mehr Schmerzen als ein Extremsportler nach einem Fallschirmsprung – im Knie, in der Hüfte, sogar eine extrem unangenehme Beschwerde namens „Schienbeinkan‐ tensyndrom“ durften wir in der Corona-Krise kennenlernen. Also, keine Sorge, geschätzter Kollege: Bald kannst du deinen Langweilersport hoffentlich wieder alleine machen.

Eins ist klar: Gerade als schwitzender Jogger sollte man besonders viel Abstand zu jedem anderen Menschen halten, der gerade draußen unterwegs ist. Stichwort Tröpfcheninfektion, Stichwort Aerosole, wir alle haben unseren Drosten gehört. Trotzdem strahlen gerade die Leute, die an ihrer Funktionskleidung zu erkennen geben, dass sie schon immer joggen, aus: Das ist mein Revier, und ihr habt mir aus dem Weg zu gehen! Unser Liebling war der Jogger auf der Darmstädter Hauptspazierwiese, der gepfiffen hat, um Spaziergänger vor sich auseinanderzutreiben – und dann angefangen hat zu schimpfen, weil einfach nicht genug Platz auf dem Weg war, um 1,5 Meter Abstand zu halten. Er ist leider nicht der einzige Jogger, der es empörend findet, wenn Spaziergänger nicht untertänig ins Gebüsch springen, sobald der große Sportler auf seiner Langweilerrunde am Hori‐ zont erscheint. Dabei könnte man während der Krise ja auch an einem Ort joggen, an dem nicht immer 500 Spaziergänger unterwegs sind. Im Wald zum Beispiel. Ansonsten gibt es auch eine freundliche Form des Ab‐ standhaltens: Man läuft einen extra großen Bogen, trabt vielleicht sogar kurz übers Feld, und lächelt den Entgegenkommenden dabei wissend zu. Immer wird zurückgelächelt.

Es ist also klar, dass Jogger auf Abstand achten müssen. Aber man muss auch den Spaziergängern, die sich jeden Abend ausgerechnet auf der Hauptspazierwiese versammeln und jedem Jogger verächtlich hinterher‐ schauen und -murmeln, sagen: Wenn ihr davon überzeugt seid, dass euch schon der Blickkontakt mit einem Jogger direkt umbringt, dann geht doch vielleicht irgendwo spazieren, wo weniger los ist. Joggen ist nämlich er‐ laubt, joggen bleibt (hoffentlich) erlaubt, und das ist auch gut so. Die meisten Virologen sind sich darüber einig, dass die Gefahr ziemlich gering ist, sich bei einer kurzen Begegnung an der frischen Luft anzustecken. Und man ist auch nicht todsicher vor der Krankheit, wenn man in jeder Sekun‐ de des Tages 1,51 Meter Abstand zu Fremden hält. Trotzdem sollte man sich an den 1,50-Meter-Richtwert natürlich halten. Aber wenn der Weg mal so eng ist, dass ein Jogger für den Bruchteil einer Sekunde nur 1,49 Meter Abstand halten kann, dann wird er dadurch nicht zum Mörder. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, sagen die Politiker, und das heißt auch: Wir sollten nicht zu Regelfetischisten werden. Manche Regeln sind sogar kontraproduktiv, das haben die Franzosen gezeigt, als sie das Joggen nur nach 19 Uhr erlaubt und sich dann über absurd überfüllte Straßen am Abend gewundert haben. Und wer unbedingt eine Regel braucht, um seine Illusion von absoluter Sicherheit aufrechtzuerhalten: In Amerika gilt bei Begegnungen mit Fremden die Faustregel: „Six feet, six seconds“. So langsam joggen nicht mal wir, als dass wir entgegenkommenden Spa‐ ziergängern sechs Sekunden lang näher als sechs Fuß kommen würden. So wird wenigstens eine von zwei Regeln eingehalten.     Sebastian Eder