DAVIDE CARSIDONA IST FRISEUR, MALER, MUSIKER, KOCH,
ENTERTAINER, SIZILIANER, DARMSTÄDTER.
WIE PASST DAS ALLES ZUSAMMEN?

Sie sind Friseur, Stylist. Sie malen, machen Musik, kochen,
lieben Zigarren, fahren Maserati – was ist die Klammer zwischen
all dem? Der Genuss? Die Kunst? 

Das Leben ist die Klammer. Das Leben ist die Kunst. Das Leben jeden Tag wieder neu zu erforschen, zu genießen, darum geht es. Dinge, die man gestern gemacht hat, heute noch schöner, noch besser zu machen. So ist alles miteinander verbunden. Schönheit, Ästhetik, Kunst, Genuss.

Früher hieß es, ein Friseur kümmere sich nicht bloß um Haare, sein Salon sei auch eine Tauschbörse für Informationen, für Sorgen und Nöte. Ist es noch so? Der Friseur nicht nur als Kopf-, sondern auch als Seelenmasseur? 

Ja, man weiß mit der Zeit viel über seine Kundschaft. Man erfährt Privates, auch Intimes, viel Schönes, auch viel Trauriges. Als Friseur bist du immer auch Psychologe. Friseur ist eine wichtige Geschichte. Denn wer, außer einem Arzt, darf einem Menschen schon so nah kommen? Wenn ich eines der Mädels, denen ich die Haare mache, in der Diskothek ansprechen würde, dann würde ich mir wahrscheinlich eine Ohrfeige verdienen, aber wenn sie hier sitzen, schon beim ersten Mal, darf ich mit ihnen sprechen, sie berühren, das Eis ist sofort gebrochen, als würden wir uns schon seit einem halben Jahr kennen. Obwohl ich dieselbe Person bin, derselbe Mensch, der sie im Club ansprechen würde. Woran das liegt? Daran, dass die Menschen, die zu mir kommen, mir vertrauen. Das macht den Beruf aus. Sie vertrauen mir, dass ich sie mit meiner Arbeit, meiner Kunst, glücklich machen werde für die nächsten zwei Monate.  

Ihr Arbeitstag beginnt um acht Uhr morgens, jetzt ist es neun Uhr abends, und sie sitzen immer noch hier, ist das ein normaler Arbeitstag?

Das ist ein normaler Arbeitstag. Oder auch nicht: Ich mache heute noch früh Feierabend. Mein Laden ist, wenn man so will,  eigentlich mein erster Wohnsitz. Nach Hause fahre ich, um ab und zu mal Hallo zu sagen. Nein, so schlimm ist es nicht, aber so ein Geschäft, egal ob das nun ein Restaurant ist, eine Boutique oder ein Friseursalon, lebt von Initiative und Leidenschaft.  

In Ihrem Salon gibt es Ipads, Musik, eine Bar. Was hat das mit Haareschneiden zu tun?

Der Friseurbesuch ist heute nicht das Gleiche wie vor zwanzig Jahren. Heute kommen die Leute zum 

Friseur, nicht nur weil sie die Haare schön gemacht haben wollen, sondern weil sie in diesen zwei Stunden etwas erleben wollen. Persönliches, aber auch Entertainment. Da ist der Haarschnitt manchmal sogar zweitrangig. Entertainment gehört dazu. Wir bei KP Ochs waren eine der ersten, die auch mal bis Mitternacht mit Cocktails und kleinen Snacks gearbeitet haben, mit Sushi an ein, zwei Abenden in der Woche. Einfach, weil damals, vor zehn Jahren, das Ladenschlussgesetz gefallen ist. Wir machen das immer noch. An zwei Tagen, donnerstags und freitags haben wir bis 22 Uhr geöffnet. 

Wie hat es Sie eigentlich nach Darmstadt verschlagen? 

Ich bin ein Gastarbeiterkind. Ich war vier, als wir aus Sizilien nach Deutschland kamen. Sizilien, das ist ein großes, kleines Land mit viel Kultur und viel Geschichte, mit vielen sehr armen Leuten. Mein Vater war Stahlbauschlosser, meine Mutter Hausfrau, sie hat sich um die Familie gekümmert. Der Grundgedanke war, irgendwann wieder nach Hause zurückzukehren. Das hat nicht geklappt. Meine Mutter ist noch immer hier, mein Vater hat es zurück nach Sizilien geschafft, aber leider nicht lebendig. Er ist früh verstorben.

Wie war das als Gastarbeiterkind der ersten Generation?

Ich bin in Offenbach aufgewachsen. Das erste Jahr ging ich noch in eine italienische Klasse, die gab es damals, dann kam ich in die normale deutsche Schule und war dort einer der ersten Ausländer. Nach der Schule habe ich in Offenbach eine Friseurlehre gemacht, danach viele Preisfrisuren, ich war Hessenmeister und so etwas. Ein halbes Jahr, nachdem ich ausgelernt hatte, habe ich in der Offenbacher Filiale von Klaus-Peter Ochs angefangen, eines großartigen Friseurs, so hat alles seinen Lauf genommen. Ich wurde Geschäftsführer, und dann hat man mich gefragt, ob ich Lust hätte, Partner in Darmstadt zu werden. Da war ich 23, und ich habe ja gesagt.

Damen oder Herren – womit haben Sie angefangen?  

Angefangen habe ich im Herrenbereich, das war damals ja noch getrennt, es gab Damenfriseure und Herrenfriseure. Ich hatte schon im ersten Lehrjahr meine Herren-Stammkunden, aber die älteren Damen haben mich geliebt, weil ich der einzige Italiener war und klein und goldig, bin ich ja heute noch, so musste ich nach meiner Lehre auch an Frauenköpfe ran, und die Zahl ging dann stetig aufwärts. 

Wenn man Ihre Posts auf Instagram verfolgt, kommt man weit herum. China, London, Paris, Mailand …

Ich habe das große Glück, als Senior Artistic Director von KP Ochs viel reisen zu können und weltweit interessante Kollegen kennenzulernen.

Hinaus in die Welt, aber immer wieder zurück nach Darmstadt – keine Lust gehabt, mal eine Großstadt zu erobern?

Ich bin ja in Offenbach aufgewachsen und habe dort meine deutschen Wurzeln. Die ersten beiden Jahre in Darmstadt habe ich mich schwer getan, da bin ich abends immer nach Offenbach oder nach Frankfurt gefahren. Aber das ist schon lange nicht mehr so. Wenn ich in Frankfurt bin, dann fühle ich mich mittlerweile nicht mehr wohl. Und wenn ich dann wieder nach Darmstadt rein fahre, bin ich zuhause. Ich bin ein überzeugter Darmstädter geworden. 

Warum?

Weil die Menschen hier toll sind. Darmstadt ist gegenüber Frankfurt viel persönlicher, menschlicher, offener. Ich will die Frankfurter nicht schlecht machen, um Gottes willen, aber in Frankfurt ist alles schnelllebiger, vielleicht auch oberflächlicher. In Frankfurt ist mehr gefragt, was hast du? In Darmstadt ist mehr das Persönliche gefragt. 

Wie viel Persönliches steckt in einem guten Friseursalon?

Ich sage manchmal so: Die Leute kommen zu mir nicht nur zum Haareschneiden, sie kommen auch zu Besuch. Sie kommen auf einen Kaffee, auf ein Spritz, und lassen sich dabei noch die Haare schön machen. Wenn man sich eine solche persönliche Beziehung über viele Jahre erarbeitet hat, dann ist das schon ein ganz besonderes Verhältnis zwischen Friseur und Kunde. Man altert auch mit den Kunden. Ich werde jetzt 50, und zu mir kommt schon die dritte Generation, das macht mich stolz. Der Großvater, der Vater, der Enkel, da merkt man dann, wie familiär verwurzelt man ist. 

Was hat es mit der Straße auf sich, in der Sie Ihren Salon betreiben? Die Grafenstraße genießt in Darmstadt einen besonderen Ruf. 

Die Straße ist einmalig. Es ist die Straße in Darmstadt. Hier trifft sich jeder, auch dank des San Remo, eines der authentischsten Gasthäuser in der Stadt. Die Grafenstraße hat den Ruf: Wenn du ein schönes Auto hast, dann musst du es an einem schönen Sommerabend mal durch die Grafenstraße brummen lassen. Es ist eine Straße, in der es um Sehen und Gesehenwerden geht. Jeder, der etwas Schönes hat, will es hier präsentieren, ob das die schöne Freundin ist oder das schöne Auto. Die Straße wird gerade herausgeputzt, wir haben jetzt eine Großbaustelle, das kostet wieder viel Umsatz, aber wenn wir das auch noch überleben, haben wir nächstes Jahr hier ein echtes Schmuckstück.

Haben Sie jemals daran gedacht, die Schere an den Nagel zu hängen?

Den Beruf Friseur aufzugeben, dazu bin ich noch nicht bereit, obwohl ich mir schon immer geschworen haben, wenn ich diesen Laden mal verlasse, nehme ich nie wieder eine Schere in die Hand. 

Was wäre die Alternative?

Die Alternative wäre, etwas in der Gastronomie zu machen. Ein kleines Lokal mit eine paar kleinen Snacks, ich könnte mir gut vorstellen, das mit einem Partner, einem guten Freund zusammen zu machen. Im Grunde ist das ja das gleiche Entertainment-Programm, nur ohne Haareschneiden. Ob das Essen nun sehr gut oder gut ist, das spielt manchmal gar nicht die entscheidende Rolle. Entscheidend ist, dass das Lokal ein Treffpunkt ist. Dass es persönlich ist und für Unterhaltung sorgt. Als Italiener fällt es dir vielleicht ein bisschen leichter zu sagen: Komm rein, zieh die Schuhe aus, häng die Jacke auf, du bist zuhause!

Gegenüber im legendären San Remo empfinden das manche Gäste anders. Die Kellner seien sehr reserviert, distanziert.

   Ich glaube, dass, wenn jemand aus Frankfurt zum ersten Mal ins San Remo geht, war das auch das letzte Mal. Aber nicht wegen der Qualität des Essens, sondern weil die Kellner sind wie die Schweiz: neutral. Sie sind weder höflich noch unhöflich, sie sind neutral. Sie sind Teil einer ganz besonderen Atmosphäre, die im San Remo über Jahrzehnte gewachsen ist. Das San Remo hat Persönlichkeit, und generell, davon bin ich überzeugt, werden genau die Geschäfte überleben, die das haben: Persönlichkeit.

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