Mit das Beste, was über das je San Remo geschrieben wurde, findet sich bei tripadvisor. Auch das Dümmste findet man dort, und das in großen Mengen. Aber das hier ist mit das Schönste: „Nix für Weicheier“, heißt es in der Überschrift, und gleich darunter: „Bisserl unhöflich sind sie schon, bis sie einen kennen. Hat bei mir nur 20 Jahre gedauert, aber dann ging es ganz gut. Mein Liebslingsrestaurant in Darmstadt.“  Schreibt – immerhin – ein Frankfurter, und die Frankfurter sind ja eigentlich stolz auf ihre Sterneschuppen: Gustav, Lafleur, Weinsinn. Seine  Lieblings-San-Remo-Gerichte listet der Frankfurter auch auf: „Rigatoni al Torno (absolut genial), Spaghetti San Remo (Champignons, Sahne, Kapern, Hackfleisch), Saltimbocca und, natürlich, frische Fische.“ Außerdem: „Preise sind fair. Hausweine erträglich. Einrichtung und Atmosphäre: Unbezahlbar!“ Dem ist im Prinzip nicht viel hinzuzufügen, man kann es nur noch ein bisschen ausführlicher erzählen. Und einräumen, dass dies zwar die ganze Wahrheit ist, aber nicht jedermann verständlich. Denn auch das lehrt tripadvisor. Man kann es auch ganz anders sehen. Man kann das San Remo tasächlich auch nicht mögen. Vor allem, wenn man weder Geschmack hat, was das Essen betrifft, noch eine Ahnung von Stil und davon, dass ein Restaurant, eine Lokalität, Herz haben muss, und wichtiger noch: Seele.

   Das San Remo hat davon im Überfluss. Es ist ein Ort, an dem sich die Stadt, ihr Rauschen und Flüstern, ihre Trägheit und Feierlaune, ihr Charme und ihre Patina, ihre Einfachkeit und Originalität ganz wunderbar verdichten. Hier kann es sein, dass ein Gast sich pikiert zeigt, weil die fabelhafte Dorade „von der falschen Seite“ serviert wurde, und Leonardo, der Kellner, dann sagt: Signore, wir sind hier nicht in Skandinavien, wir sind im San Remo, wir sind hier eine Familie. Ja, die Kellner! Sie sind die eigentlichen Stars den San Remo. Sie und die Barista hinter der Theke. Und Mara, die Kellnerin, die sich in dieser rauen Männerwelt behauptet, die Freundlichkeit in Person.

Kellner Leonardo und Mara

Es ist nichts Besonderes, wenn vor dem San Remo, in dem zur Frühstückszeit oft ein paar Müllwerker beim Espresso sitzen, ein etwas verwitterter Mann seinen ultraschicken 150 000-Euro-Schlitten parkt und sich aus dem Lederfauteuil der Limousine auf einen der Sechzigerjahrestühle aus Stahl bemüht, die im historischen Teil des San Remo die Jahrzehnte überlebt haben. Der etwas verwitterte Mann bestellt – er weiß, was sich in Sizilien gehört – einen Campari Soda, und weil er gerade noch ein paar Worte von Rino, dem Kellner, am Nachbartisch aufgeschnappt hat („denke ich!“), fragt er maximal interessiert: „Was denkst du?“ Rino blickt in den seit Tagen stahlblauen Himmel, ein wunderbares Hoch liegt über Darmstadt, er lässt sich Zeit mit seiner Antwort, viel Zeit. Dann heben sich seine Augenbrauen einen Millimeter, und er sagt: „Könnte regnen heute Abend!“ Besseres lässt sich kaum sagen in einem solchen Augenblick. Die Kellner sind – wenn man das so sagen darf – das Salz und die feine Schärfe in der Suppe dieses ganz besonderen Lokals. Im San Remo, auch das ist besonders, sitzt ein Querschnitt durch die Darmstädter Bevölkerung. Ärzte, Dirigenten, Professoren,  Schauspieler, Makler, Maler, Unternehmer, Radrennfahrer, Vermieter, Mieter, Makler, Rentner,  Müllmänner, Studenten. Stamm- und Zufallsgäste. Jene, die zum ersten Mal kommen, erkennt man meist sofort. So wie jenen Herrn, der einen Milchkaffee bestellte, eine Latte macchiato, und Rino, den Kellner, fragte, ob er ihn mit Sojamilch bekommen könne. Sojamilch, sinnierte Rino und schaute den Mann an, als käme er von weit, weit weg, vom Mond vielleicht, oder von noch weiter. Er schaute den Mann lange an. „Nur Kuh“, sagte er dann.

Küche und Service: das San-Remo-Team

Die Speisekarte des San Remo ist groß. Fleisch, Fisch, Pizza, Pasta, Salate. Alles gut, ohne Schnörkel, ohne Schnickschnack. Italienische Küche auf gleichbleibend hohem Niveau. Und schnell ist sie. Wo man sonst in Restaurants dieser Größenordnung schon mal einen halben Abend auf seine Bestellung wartet,  hat man hier nicht nur die Zubereitung, sondern auch die Abläufe im Griff. Das liegt nicht daran, dass man töpfeweise vorkochen würde, sondern daran, dass man Struktur in der Organisation hat. Die Küche ist hochmodern. Und bestens organisiert. Das Fleisch, Rumpsteak und Rinderlende beispielsweise, sind portioniert, mit Olivenöl bestrichen und vakumisiert. Ein Griff in die Kühlschublade genügt, das Fleisch wandert auf den Grill und ist im Handumdrehen fertig. Gleichzeitig werden die Beilagen zubereitet. Es sind automatisierte Abläufe, routinierte Phasen der Vorbereitung, die garantieren, dass Speisen in erstaunlicher Menge und Frische serviert werden können, zu jeder Tageszeit. Es gibt eine Menge Restaurants in Darmstadt, denen es nicht an gutem Willen fehlt oder an Kochtalent, die es aber nicht schaffen, die Abläufe in der Küche zu organisieren. Sie sollten ihre Leute zum Praktikum ins San Remo schicken. Sie könnten dort lernen, wie es geht.

   Das San Remo hat als Eisdiele angefangen, erst nach und nach wurde es zum Ristorante, zur Bar, zur Pizzeria. Und weil man hier Tradition nicht aufgibt, weil man stolz auf seine Historie ist, ist die Eistheke gleich vorn am Eingang immer noch so etwas wie der erste Willkommensgruß. Und natürlich braucht auch das Eis des San Remo keinen Vergleich zu scheuen. Produziert wird es von Carmelo, dem Chef, und Michele, dem fabelhaften Barista, in einem Raum im Hinterhof. Auch hier kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Eine Eisküche wie aus dem Bilderbuch. Blitzsauberer Edelstahl, unverwüstlich, liebevoll gepflegt seit Jahrzehnten. Tradition auch hier. Ein großartiger Raum. Vorn im San Remo kostet die Kugel Eis 80 Cent. Die Darmstädter Konkurrenz verlangt mehr, bis zu 1,40 Euro. Carmelo findet, dass 80 Cent ausreichend sind. Er lebt nicht mehr vom Eis. Er macht Eis, weil er es schon immer gemacht hat, weil er Spaß dabei hat, weil es zum San Remo gehört wie der Fernseher in der Ecke, auf dem immerzu Sport läuft rund um die Uhr. Auch die skurrile Wandbemalung gegenüber der Bar ist im vergangenen Jahrhundert entstanden, als das San Remo noch eine Eisdiele war. Im Winter war nicht viel los, und so saß der Chef, Carmelos Vorgänger, mit einem Freund oft allein im Lokal. Der eine malte an der Wand, der andere trank ein Gläschen und schaute zu. Das Ergebnis war ein unverwechselbares Stück San Remo. In diesem Sommer hat Carmelo die frühere Sisha-Bar nebenan übernommen und aus dem traurigen, dunklen Loch einen hellen, sich zur Straße hin öffnenden neuen Gastraum geschaffen: den San Remo Garten. Dort hat der Darmstädter Maler und Graffiti-Künstler Julian Bock das historische Wandgemälde zunächst in eine zeitgemäße Interpretation übertragen – und es dann im Ur-San-Remo auf seine Art mit Spraydose und Pinsel restauriert – als jüngsten Ausdruck einer großen Darmstädter Gastronomie-Tradition.