Geh doch rüber und spiel Tennis!

„Wenn du schlecht trainiert hast,
hat der Trainer gesagt: Zoran, ich sehe dich schon als
Tennistrainer in Deutschland. Das war die schlimmste
Beleidigung, die man sich vorstellen konnte.“

Von ZORAN PETKOVIC

Ich bin ein Serbe aus Tuzla in Bosnien. Wir hatten Glück. Dort, wo wir wohnten, gab es einen öffentlichen Sportplatz. Der Basketballplatz und der Fußballplatz lagen nebeneinander. Wir spielten auf Beton mit unseren Straßenschuhen und haben Ärger mit der Mama bekommen, weil die Schuhe immer kaputt waren. Wir hatte wenig Geld. Mein Vater war Arbeiter, meine Mutter Hausfrau. Mit Sport hatten sie nichts zu tun.

Wir spielten Fußball. Jeder von uns hatte eine Mannschaft, meist war es die aus deiner Straße. Wer gewann, blieb auf dem Platz. Es war wichtig zu gewinnen, sonst musste man sich hinten anstellen und zwei Stunden warten, bis man wieder drankam. Es konnte auch sein, dass du gewonnen hast, und dann kamen ein paar Ältere und Stärkere und haben dich vom Platz geworfen. Es war immer auch ein bisschen Überlebenskampf. Hattest du im Fußball verloren, bist du rüber zum Basketball, wenn du dort schneller drankamst. Und umgekehrt. Es ging zur Sache, auch innerhalb der Mannschaften. Hast du schlecht gespielt, warst du draußen.

Hier in Deutschland sagt man, ich will, dass mein Sohn Fußball spielt, also melde ich ihn im Verein an. So war das nicht bei uns. Du konntest nicht einfach zu einem Verein gehen und sagen, ich möchte jetzt hier Mitglied werden und Fußball spielen oder Basketball. Keine Chance. Die einzige Chance war, dass ein Trainer aus dem Verein auf unseren Plätzen vorbeikam und fand, dass du Talent hast. Dann hieß es: Du kommst morgen zum Probetraining! Danach hast du erfahren, ob du bleiben darfst oder nicht. Wenn du sagen konntest, ich spiele Fußball in einem Verein, dann hieß das, du bist ein Klassespieler, sonst hätten sie dich gar nicht erst genommen. Viele von den Jungs damals haben es im Fußball in die erste serbische Liga geschafft, ein paar sogar in die Nationalmannschaft. Mirza Delibašic, der beste Basketballspieler, den Bosnien je hatte, spielte als Kind auf unserem Platz. Er wurde einer der großen Stars von Real Madrid, gewann mit dem jugoslawischen Team alle großen Titel: Gold bei Olympia, drei Mal die EM, eine Weltmeisterschaft.

In einigem Abstand zu unserem Basketball- und Fußballplatz war die Anlage des Tennisvereins. Die Plätze waren schön, aber für uns tabu. Tennis haben andere gespielt, ganz in Weiß, sie waren wie aus einer anderen Welt. Aber auch sie suchten Talente, und sie suchten sie bei uns. Sie wussten: Wenn einer richtig gut Basketball spielt und richtig gut Fußball, dann hat er eine gute Koordination, ein gutes Auge, ein gutes Ballgefühl, und wenn er dann noch richtig viel Ehrgeiz hat, dann wird er auch gut Tennis spielen. Eines Tages hat mich ein Scout vom Tennisverein angesprochen. Komm mal rüber zum Tennisplatz, hat er gesagt. Ich war neun, und das war ein bisschen blöd für mich, denn bei den Fußballern und Basketballern hat man seinen Ruf verloren, wenn man Tennis spielte. Wir hatten keine Schiedsrichter, und wenn einer fiel und schrie: „Foul!“, dann sagte der andere: „Was Foul? Geh doch rüber und spiel Tennis!“ Und ich spielte jetzt Tennis! Ganz in Weiß. Danach habe ich mich immer ganz schnell umgezogen, damit es bloß keiner sieht von meinen Jungs. Im Verein gab mir der Trainer einen Schläger, er spielte den Ball hoch, ich lief zurück, sprang und schlug ihn über den Zaun. Er sagte: Okay, du hast Talent! Ich sagte: Talent? Ich habe den Ball über den Zaun gehauen! Er sagte: Das macht nichts. Du hast ihn im Rückwärtslaufen getroffen, im Sprung. Du hast Talent! Den ersten Schläger habe ich vom Platzwart bekommen, der hatte zehn Stück, und die gab er denen, die ihm bei der Arbeit geholfen haben. Ich wurde schnell besser, und der Trainer sagte: Wenn du dich anstrengst, kannst du werden wie Pilic, wie Franulovic – das waren die großen Stars damals. Mir sagten sie nichts. Wir kannten die Basketballer, die Fußballer, die Boxer. Aber doch nicht die Tennisspieler!

Wenn du schlecht trainiert hast, dann hat der Trainer gesagt: „Zoran, ich sehe dich schon als Tennistrainer in Deutschland!“ Das war die schlimmste Beleidigung, die man sich vorstellen konnte. Warum? Weil bei uns Tennistrainer für den Leistungssport zuständig waren. Ältere Damen haben bei uns nicht Tennis gespielt. Hobbyspieler gab es nicht viele. Aber in Deutschland, hieß es, da gibt es viele Hobbyspieler, und die Damen spielen nicht nur Tennis, die nehmen sogar Trainerstunden! Unglaublich! Wie Fußball und Basketball war Tennis im Verein reiner Leistungssport. Ich habe schon früh auf dem ersten Platz der Anlage gespielt. Selbst der Klubpräsident hat ihn für uns frei gemacht. Mit zwölf war ich jugoslawischer Meister meiner Altersklasse, da habe ich Schuhe bekommen, Schläger, sogar Geld von der Stadt. Es gab einen Katalog mit verschiedenen Kategorien: Als bosnischer Meister bekamst du eine bestimmte Summe, als jugoslawischer Meister gab es mehr.

In Deutschland braucht man Geld, wenn man will, dass sein Kind ein guter Tennisspieler wird. Das ist schade, denn dem Tennis gehen deshalb viele Talente verloren. Mich und meine Eltern hat Tennis nie Geld gekostet. Ich habe mir nie einen Schläger kaufen müssen.

In der Jugend habe ich internationale Turniere gespielt, in Mönchen-gladbach habe ich mal ein Finale gegen Ivan Lendl verloren. Er war groß und dünn, und als ich meinem Vater ein Foto mit ihm gezeigt habe, hat er gesagt: Wie kannst du gegen so einen verlieren? Aber Lendl war unglaublich gut. Er hat uns alle fertiggemacht in der Jugend. Yannick Noah war der Einzige, der ihn an einem guten Tag schlagen konnte.

Denk ich an Sport, denke ich an den Davis Cup. Mein erster Einsatz war schrecklich. Mit 16 habe ich im Team mit Pilic (!) und Franulovic (!) gegen Rumänien gespielt. Sie waren eine andere Liga, sie haben an einem Tisch gegessen und wir am anderen. Am letzten Tag spielte erst Franulovic, dann sagte der Trainer plötzlich zu mir, du spielst das letzte Match gegen Nastase. Ich war null vorbereitet, stand in der Trainingshose da und begann zu spielen. Nastase machte sich lustig über mich, holte seinen Trainingsanzug aus der Tasche und zog ihn an. Er hat mich enttäuscht, er war mein großes Idol bis dahin. Ich habe gut gespielt von 12 bis 16, mit 17 ging es auch noch, dann haben mich die Jüngeren überholt. Mit 18 habe ich ein Turnier in Norwegen gespielt und dort einen amerikanischen Spieler kennengelernt. Er sagte, geh aufs College, bemüh dich um ein Stipendium in Amerika, das ist für dich die ideale Lösung. Ich habe mich darum gekümmert und ein Angebot der University of South Carolina bekommen. Ich bin rübergeflogen und vier Jahre dort geblieben.

Wenn nicht Tennisschläger, dann Gitarre: Zoran Petkovic

Wenn ich an Fußball denke, dann denke ich an Roter Stern Belgrad, an wirklich gute Vereine, die wir immer hatten. Sie alle haben gelebt vom Europapokal, von Spielen gegen Real Madrid, da haben sie hunderttausend Tickets verkauft. Mit dem Geld und der damaligen Struktur des Fußballs konnten die Klubs sehr gute Spieler halten. Heute gibt es in den dominierenden Fußball-Nationen erstklassige Stadien, und anhand dieser Stadien wurden die Normen definiert. Für Teams wie Roter Stern heißt das: Falls es in der Vorrunde der Champions League zufällig zu einem Spiel gegen Real Madrid kommen sollte, dürfen sie wegen ihres alten Stadions nicht mehr hunderttausend  Tickets verkaufen, sondern vielleicht nur noch 30000. Da geht viel Geld verloren, aber es würde sowieso nicht reichen. Die Champions League hat die großen europäischen Klubs, die immer weit kommen, so reich  gemacht, dass die Italiener in Serbien ganze Jugendmannschaften kaufen. Die holen fünfzig Spieler und sagen, wenn es einer schafft, ist es gut. Im Basketball ist das das Gleiche. Serbien hat noch immer eine gute Nationalmannschaft, aber die National Basketball Association, die NBA, holt die besten Spieler immer früher weg. Für die Topspieler aus der NBA kann der serbische Verband nicht mal die Versicherung bezahlen, die amerikanische Klubs vor großen Turnieren verlangen. Die Kommerzialisierung und die Globalisierung machen den Spitzensport in kleineren Ländern kaputt. Die Großen entscheiden.

Sport hat viel mit Jugendförderung zu tun. Allein im Bezirk Darmstadt sind mehr als hundert Kinder in einem Leistungskader, und wir haben sechs Bezirke in Hessen. Das sind weit mehr als 500 Jugendliche unter 14 Jahren. Da müssten es doch fünf schaffen, sollte man denken. Aber wo sind die Ergebnisse? Wir wollen Top-100-Spieler. Aber die kommen nicht. Meine Tochter Andrea hat es geschafft als Hessin, und eigentlich müssten nach ihren Erfolgen jetzt noch Bessere kommen. Aber da ist nur ein Loch. Woran liegt das? An der Art der Förderung und daran, dass man nicht die richtigen Kinder findet. Echte Talente. Man müsste auf die Straße gehen. Natürlich können Kinder in der Bezirksauswahl weit kommen, wenn sie dreimal pro Woche Einzelstunden haben. Aber das ist nicht, wovon ich rede, das ist nicht Talent.

Ich bin in einer Hinsicht vielleicht besser als andere Trainer: Wenn ich ein Kind spielen sehe, dann kann ich sagen, okay, das ist ein Talent, oder ich kann sagen, Leistungstennis, das vergessen wir jetzt mal. Es gibt diese hübsche Geschichte von Sinisa Mihajlovic, dem großen serbischen Fußballer und Freistoßschützen und heutigen Trainer. Er hatte vier Kinder und eines außerhalb der Ehe. Einmal vor Weihnachten sagte seine Frau, mein Wunsch ist, dass alle fünf Kinder mit uns zusammen feiern. Mihajlovic war einverstanden, und als er am Flughafen auf das Kind wartet, ist die Presse da. Das Kind, sieben Jahre alt, kommt an, rennt zu seinem Papa, sie weinen.

Im Interview wird Mihajlovic gefragt, ob der Kleine wohl auch Fußballprofi werde. „Nein!“, sagt er. Warum nein? „Weil der Junge unsportlich ist.“ Woher er das wissen wolle, er habe ihn doch ewig nicht gesehen. „Ich habe gerade gesehen, wie er läuft“, antwortet Mihajlovic. Das ist der Balkan, brutal, aber es ist nicht böse gemeint. Und es stimmt. So wie Mihajlovic sehe ich es auch. Man sieht sofort, ob ein Kind koordinatives, motorisches Talent, ob es Balance hat oder nicht. Wenige Kinder haben Talent für den Leistungssport, viele haben es nicht. Das ist keine Wertung, das ist einfach so. Es ist weder gut noch schlecht. Meine beiden Töchter sind dafür ein gutes Beispiel. Andrea hat es in die Top Ten der Weltrangliste geschafft. Und Anja, die Jüngere, hat gezeigt, dass Tennis auch ohne Leistungsschiene Sinn macht. Sie hat Spaß gehabt am Tennis, hatte zweimal in der Woche Gruppentraining, sie war glücklich, ich war glücklich. Ich glaube sogar, dass Anja mehr Spaß am Tennis hat als Andrea. Sie hat andere Talente, andere Wege zu Erfolg und Glück. Ich wollte auch nicht, dass Andrea ins Profitennis geht. Sie hat es gewollt, und deshalb habe ich sie unterstützt. Warum ich es nicht wollte? Das lag an meiner eigenen Geschichte. Ich war sehr, sehr ehrgeizig. Ich habe sehr hart trainiert, aber falsch. Ich habe es nicht geschafft, ich war enttäuscht. Und nun kam Andrea, sie war supergut in der Schule, und ich habe gesagt, Profitennis, das ist Quatsch, mach lieber ein bisschen Sport und geh zur Uni. Aber sie hat sich anders entschieden. Leider? Ein bisschen leider kommt immer durch. Die Verletzungen, die sie hatte – es ist nicht schön, sein Kind leiden zu sehen, ich komme damit nicht gut zurecht. Sportlich bin ich sehr zufrieden mit dem, was sie erreicht hat. Ich habe, ehrlich gesagt, nie damit gerechnet, dass sie es so weit nach vorn schafft. Sie hat wirklich extrem viel investiert. 

Zoran Petkovic feiert in Paris einen Sieg seiner Tochter in der zweiten Runde der French Open 2019

Ich habe immer Angst gehabt, dass wir Andrea zu großen Druck aufladen. Hätte ich als Klubtrainer aufgehört und sie hauptberuflich trainiert, hätte das für Andrea bedeutet, dass die Verantwortung für die ganze Familie auf ihr liegt. Das wollte ich nicht. Ich habe gesagt, Andrea, ich begleite dich auf manche Turniere, ich berate dich. Aber ich behalte meinen Job. Meine Beziehung zu Andrea war grandios, und sie ist grandios geblieben. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Familien im Profitennis sind kaputtgegangen. Bei uns ist trotz des Stresses, den eine Tenniskarriere bedeutet, die Familie absolut harmonisch geblieben. Ich reise gern mit Andrea nach Australien, aber ich freue mich auch, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich bin aus Australien schon mal um elf Uhr in Frankfurt gelandet und mittags um zwei auf dem Trainingsplatz in Darmstadt gestanden. Tennistrainer in Deutschland? Macht mir Spaß. Wer hätte das gedacht damals in Tuzla…